Plattform-Ökonomie vs. Mittelstand: Brauchen wir eine Industrieplattform?

Deutschlands Mittelstand im Plattform-Druck: Wie eine B2B-Industrieplattform Wertschöpfung, Kundenzugang und Datenhoheit in der Industrie neu ordnen könnte.

Zuletzt aktualisiert: 23. September 2025

Kurzfassung

B2B-Plattformen drehen an den Stellschrauben der industriellen Wertschöpfung. Sie ziehen den Kundenzugang an sich, bündeln Daten und setzen Standards. Für viele Mittelständler wird das zum Risiko – und zur Chance. Dieser Beitrag zeigt, wie die Plattform-Ökonomie den Maschinenbau verändert, warum eine starke B2B-Industrieplattform für Europa Sinn ergeben könnte und was jetzt praktisch zu tun ist.


Einleitung

Die Musik spielt zunehmend auf Plattformen. Wer dort sichtbar ist, gewinnt Anfragen, Daten und Tempo. Wer draußen bleibt, verliert Kundennähe. Genau hier entscheidet sich die Zukunft des deutschen Maschinenbaus. Im Kern geht es um eine B2B-Industrieplattform, die nicht nur Bestellungen abwickelt, sondern Standards setzt – von Daten bis Logistik. Die Frage lautet: Wollen wir zuschauen, oder bauen wir selbst mit?


Wie Plattformen den Kundenzugang verschieben

Plattformen leben von Netzwerkeffekten: Je mehr Käufer und Lieferanten teilnehmen, desto attraktiver wird das System. In der Industrie heißt das: Suchkosten sinken, Angebote werden vergleichbar, Bestellungen laufen per Klick. Marktplätze wie wlw/Visable, Unite/Mercateo oder Amazon Business bündeln Nachfrage und verdrängen Stück für Stück den direkten Erstkontakt. Collaboration-Plattformen wie SupplyOn gehen tiefer in Prozesse – Qualität, Liefertermine, Abnahme.

“Wer den Kundenzugang kontrolliert, kontrolliert den Datenfluss – und am Ende die Margen.”

Für Mittelständler ist das heikel. Der Preisdruck steigt, während Plattformen wertvolle Nutzungsdaten sammeln. Gleichzeitig bieten sie Reichweite und Tempo. Die kluge Reaktion ist nicht Rückzug, sondern bewusstes Spielen mehrerer Kanäle – plus klare Regeln für Daten und Verträge.

Die Landschaft ist heterogen. Ein grober Überblick hilft bei der Wahl:

Typ Beispiele Nutzen/Risiko
Lead-/Supplier-Discovery wlw/Visable, Scoutbee + Sichtbarkeit, + neue Lieferanten; − Abhängigkeit von Rankings
Procure-to-Pay/Katalog Amazon Business, Unite/Mercateo + Tempo, + Standardprozesse; − Margendruck, − Datenteilen
Supply-Chain-Collab SupplyOn + Qualität, + Transparenz; − Integrationsaufwand
Global Sourcing Alibaba + Auswahl, + Preis; − Compliance, − Risiko fern

Wichtig: Zahlen zu Reichweiten stammen oft von Anbietern selbst. Unabhängige Studien für den Maschinenbau sind rar. Prüfen Sie daher die Wirkung im eigenen Piloten – mit klaren KPIs für Kosten, Zeit und Qualität.

Brauchen wir ein „Amazon für die Industrie“?

Die Versuchung ist groß: Eine einzige, dominante Plattform, die alles kann. Doch Monopole würgen Vielfalt ab und verschieben Wertschöpfung aus Europa. Sinnvoller erscheint eine föderierte B2B-Industrieplattform-Landschaft. Sie verbindet Unternehmen über gemeinsame Regeln – ohne die Hoheit über Daten aufzugeben.

Europa arbeitet genau daran. Catena-X zeigt in der Automobilbranche, wie ein offenes Ökosystem funktioniert: Unternehmen teilen Daten souverän, zertifizierte Lösungen sichern Qualität und Interoperabilität. Manufacturing-X will dieses Prinzip auf die Industrie übertragen. Das Ziel ist kein Marktplatz im US-Stil, sondern ein vernetztes System, in dem viele Anbieter Dienste bereitstellen – vom CO₂-Fußabdruck bis zur Traceability.

Was heißt das für den Mittelstand? Nicht warten, bis „die“ Plattform kommt. Besser jetzt Kompetenzen aufbauen: Identitäten, Schnittstellen, Datenmodelle. Wer früh andockt, definiert mit – statt nur zu folgen. Und: Multi-Home. Also mehrere Plattformen parallel nutzen, damit kein Gatekeeper zu mächtig wird.

Vorsicht bei Zahlen: Viele Erfolgsmetriken stammen aus Pilotprojekten. Sie sind wertvoll, aber nicht 1:1 generalisierbar. Dennoch ist die Richtung klar: Standards senken Integrationskosten, verlässliche Governance schafft Vertrauen, und gemeinsam genutzte Datenräume machen Lieferketten robuster.

Der europäische Weg: Datenräume statt Monopol

Datenräume sind der Kern des europäischen Ansatzes. Sie sind keine zentrale Datenbank, sondern ein Regelwerk, das sicheren Austausch ermöglicht. Unternehmen behalten die Kontrolle, entscheiden, wer was sehen darf, und können Zugriffe widerrufen. GAIA-X liefert dafür Governance und Prüfmechanismen. Catena-X setzt es in der Praxis um – mit konkreten Anwendungsfällen wie Qualitätssicherung, Lieferketten-Resilienz und Product-Carbon-Footprint.

Manufacturing-X will diese Logik in den Maschinenbau tragen. Der Vorteil: Offene Standards und Zertifizierung senken das Risiko von Lock-in. Wer OPC UA, standardisierte Identitäten und geprüfte Konnektoren nutzt, kann Partner schneller anbinden. Für KMU ist das entscheidend. Denn jede Woche weniger Integrationszeit ist bares Geld.

Gleichzeitig bleibt Arbeit: Interoperabilität zwischen Branchenräumen, die Einbindung kleiner Zulieferer, und der Nachweis wirtschaftlicher Effekte in der Breite. Öffentliche Programme helfen beim Einstieg, doch der Nutzen entsteht erst im Alltag – wenn Qualitätsdaten fließen, CO₂-Werte sauber berechnet werden und Reklamationen schneller gelöst sind.

Wichtig für die Einordnung: Einige Informationsangebote zu Technologien und Förderungen sind älter als 24 Monate. Sie liefern Grundlagen, spiegeln aber nicht immer den aktuellen Reifegrad. Ergänzen Sie daher stets mit frischen Projektseiten und Verbandsinfos.

So geht’s jetzt: Roadmap für den Mittelstand

Starten Sie klein, aber messbar. Wählen Sie zwei Use Cases: Lieferanten-Suche und Qualitätsdaten-Sharing. Kombinieren Sie eine Discovery-Plattform mit einer Kollaborationslösung. Definieren Sie KPIs: Zeit bis Erstangebot, Preisvariation, Reklamationsquote, Nacharbeitszeit. Nach sechs Monaten entscheiden Sie über Skalierung.

Technisch zählt Pragmatismus. Setzen Sie auf standardisierte Schnittstellen (REST/cXML), eindeutige Produktdaten und Rollen-/Rechte-Modelle. Prüfen Sie, ob Lösungen GAIA‑X/IDS‑Prinzipien unterstützen. Denken Sie auch an Vertragsklauseln für Datenzugriff, Serverstandort und Verschlüsselung. So halten Sie die Tür offen und die Risiken klein.

Organisatorisch braucht es ein kleines, schlagkräftiges Team: Einkauf, Vertrieb, IT/OT und Qualität. Legen Sie klare Verantwortungen fest. Schulen Sie Lieferanten mit schlanken Onboarding-Guides. Messen Sie monatlich. Wenn möglich, nutzen Sie Förderangebote und Branchenprogramme als Beschleuniger.

Strategisch gilt: Multi-Home bleibt Pflicht. Binden Sie mindestens zwei Plattformen je Kernprozess an. So verteilen Sie Verhandlungsmacht und bleiben beweglich. Und: Erzählen Sie Ihre Erfolgsgeschichten. Sichtbarkeit zieht Partner an – ein Netzwerkeffekt, den auch der Mittelstand nutzen kann.


Fazit

Plattformen verschieben Macht in Richtung derjenigen, die Kundenzugang und Daten besitzen. Ein europäischer Weg ist möglich: föderierte Industrieplattformen, die Souveränität wahren und Tempo bringen. Der Mittelstand muss jetzt handeln, Standards testen und in kleinen Schritten skalieren. Wer früh lernt, verhandelt morgen auf Augenhöhe.


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Artisan Baumeister

Mentor, Creator und Blogger aus Leidenschaft.

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