Viele gängige Armbänder und Smartwatches liefern fehlerhafte Messwerte für Menschen im Rollstuhl. Dieser Überblick zeigt, warum Wearables Rollstuhl-Nutzerinnen und -Nutzer oft nicht zuverlässig erfassen, welche Messgrößen besonders betroffen sind und welche technischen und regulatorischen Lücken das Problem vergrößern. Leserinnen und Leser erhalten konkrete Beispiele aus Studien, Hinweise für den Alltag und eine Einordnung, welche Änderungen nötig wären, damit tragbare Geräte inklusiver werden.
Einleitung
Viele Menschen vertrauen heute einer Uhr oder einem Fitnessband, um Schritte, Kalorien oder den Puls zu überwachen. Für Rollstuhlfahrende trifft dieses Versprechen nur bedingt zu. Standardalgorithmen sind auf Gehbewegungen und Beinbewegungen trainiert; das führt zu systematischen Fehlern, wenn Aktivitäten hauptsächlich durch Oberkörper-Schübe oder elektrische Antriebe erzeugt werden.
Diese Diskrepanz ist nicht nur ärgerlich – sie kann messbare Folgen haben. Messungen fließen in Gesundheitsprogramme, Reha-Protokolle und Studien. Wenn die Daten für eine ganze Gruppe verzerrt sind, bleiben persönliche Empfehlungen unpräzise und politische Entscheidungen können falsche Prioritäten setzen. Die folgenden Abschnitte ordnen die technischen Ursachen, typische Alltagsszenarien und die regulatorische Lage ein und nennen pragmatische Wege zur Verbesserung.
Warum Wearables Rollstuhl oft im Stich lassen
Die meisten Wearables nutzen Beschleunigungssensoren am Handgelenk, ergänzt um optische Pulssensoren (PPG) und gerichtete Algorithmen, die Schrittmuster erkennen. Bei Rollstuhlnutzung sind typische Bewegungen anders: anstelle zyklischer Beinbewegungen treten kurze, kräftige Pushes, Drehungen am Rad oder kontinuieriges Drücken eines Joysticks auf. Die Folge: Schrittzähler erkennen Pushes nicht zuverlässig, Kalorienverbrauch wird oft unterschätzt, und Pulsmessungen sind anfälliger für Artefakte.
Studien zeigen dabei klare Muster. Systematische Übersichtsarbeiten und Validierungsstudien berichten, dass einige Uhren Pushs deutlich besser erfassen als andere; die Apple Watch etwa schnitt in mehreren Untersuchungen vergleichsweise gut ab, mit Abweichungen bei Push-Zählung um rund 9–20 % je nach Modell und Protokoll (eine Studie aus 2021 ist älter als zwei Jahre und wird hier als historische Referenz genannt). Andere Geräte wie einfache Fitnessbänder können Fehler von deutlich über 50 % aufweisen. Herzfrequenzmessungen sind in Ruhe oft brauchbar, bei intensiveren Oberkörper-Belastungen nehmen Messfehler zu.
Viele Messfehler entstehen nicht durch einzelne Sensoren, sondern durch die Annahmen in den Algorithmen.
Technisch liegen die Hauptprobleme in drei Bereichen:
- Sensorplatzierung und -art: Handgelenks-PPG ist empfindlich gegen Armbewegungen und Kontakt zur Haut.
- Trainingsdaten der Algorithmen: Die meisten Modelle wurden an gehenden Probanden trainiert und lernen deshalb Schrittmuster, nicht Push-Muster.
- Heterogenität der Nutzergruppe: Unterschiedliche Rollstuhltypen (manuell vs. elektrisch), Push-Techniken und Begleiterkrankungen verändern die Signale stark.
Eine kurze Tabelle fasst typische Messfehler zusammen:
| Messgröße | Typisches Problem | Richtung des Fehlers |
|---|---|---|
| Push-/Schrittzähler | Pushes werden nicht als Schritte erkannt | Unterschätzung (häufig 9–150 %) |
| Kalorienverbrauch | Algorithmen basieren auf Beinarbeit und VO2-Modellen | Meist Unterschätzung, manchmal Überschätzung bei fehlerhafter VO2-Schätzung |
| Herzfrequenz (PPG) | Bewegungsartefakte und Hautkontaktprobleme | Variabel, bei Belastung oft ungenauer |
Diese Probleme erklären, weshalb viele Standardwerte aus der Fitnesswelt nicht 1:1 auf Rollstuhlnutzende übertragbar sind. Mehr und besser abgestimmte Trainingsdaten für die Algorithmen sowie zusätzliche Sensoren (z. B. Drehmomentsensoren im Rollstuhl oder separate Push-Sensoren) wären notwendig, um die Lücke zu schließen.
Wie sich Fehleinschätzungen im Alltag bemerkbar machen
Im Alltag fallen Ungenauigkeiten in mehreren Situationen auf. Bei körperlicher Aktivität kann eine falsche Anzeige zu falschen Trainingszielen führen: Wer sein Aktivitätsziel anhand von Schritten oder verbrannten Kalorien anpasst, erhält für dieselbe Anstrengung eine andere Rückmeldung als eine gehende Person. Das wirkt demotivierend oder induziert falsche Annahmen zur eigenen Fitness.
In klinischen Kontexten hat das Folgen: Reha-Empfehlungen, telemedizinische Überwachungen oder Studien, die auf Wearable-Daten beruhen, können verzerrt werden. Wenn zum Beispiel ein Programm automatische Erinnerungen basierend auf Bewegungsdaten sendet, sind die Erinnerungen für Rollstuhlnutzende entweder zu selten oder falsch getimt.
Auch Sicherheitsfunktionen sind betroffen. Einige Geräte melden Stürze oder ungewöhnliche Inaktivität. Bewegungsmuster eines Rollstuhls können solchen Funktionen entgehen oder falsche Alarme auslösen. Für Menschen, die allein leben und auf zuverlässige Alarme angewiesen sind, ist das kein kleines Problem.
Konkrete Beispiele aus Nutzerberichten und Studien: Manche Nutzer berichten, dass die Aktivitätsringe der Apple Watch zwar Roll‑Ziele anzeigen, die Kalorienabschätzung aber nicht passte. Validierungsstudien (u. a. aus 2021 und 2023) bestätigen diese Diskrepanz; ältere Studien werden im Text kenntlich gemacht. Für Menschen mit elektrischen Rollstühlen verschlechtert sich die Sensitivität zusätzlich, weil Motorunterstützung typische Beschleunigungssignale verändert.
Praktischer Rat: Wer sich auf Wearable-Daten verlässt, sollte die Messwerte hinterfragen, Kalibrierungsfunktionen nutzen, wo vorhanden, und ergänzende Messmethoden in Erwägung ziehen — etwa manuelle Zählung von Pushes während einer Trainingseinheit oder Messung des Pulses mit einem Brustgurt bei belastungsintensiven Aktivitäten.
Chancen und Risiken: Für wen funktionieren Geräte besser, für wen schlechter?
Die Leistungsfähigkeit von Wearables ist nicht für alle Rollstuhlnutzenden gleich. Manuelle Rollstühle mit regelmäßigen, rhythmischen Push-Techniken liefern Signale, die sich leichter von Algorithmen erkennen lassen. Studien zeigen, dass bei solchen Nutzergruppen bestimmte Smartwatches vergleichsweise brauchbare Push-Zählungen liefern. Dagegen führen unregelmäßige Pushs, häufige Drehungen, enge Kurven oder stark gedämpfte Bewegungen (etwa bei Muskelspastik) zu schlechteren Ergebnissen.
Elektrische Rollstühle stellen ein eigenes Problem dar: Der Antrieb erzeugt konstante oder pulsierende Beschleunigungen, die nicht unbedingt mit menschlicher Anstrengung korrelieren. Geräte, die nur Beschleunigungssignale auswerten, können hier Aktivität über- oder unterschätzen. Für die Herzfrequenzmessung gilt: Optische Sensoren funktionieren am besten bei guter Hautkontaktlage und geringer Bewegung; bei intensivem Oberkörper-Training sind Brustgurte oft genauer.
Es gibt aber auch Chancen. Einige Hersteller haben Wheelchair‑Modes oder spezifische Workouts eingeführt, die Pushes statt Schritte zählen. Apple beispielsweise bietet seit einigen Versionen einen solchen Modus an (Herstellerinformationen 2023–2025). Solche Features reduzieren Fehlklassifikationen, sind aber kein Allheilmittel, weil sie weiterhin auf den vorhandenen Sensoraufbau angewiesen sind.
Für die Praxis bedeutet das: Nutzerinnen und Nutzer sollten Geräte vor dem Vertrauensaufbau testen und prüfen, wie gut Pushes, Kalorien und Puls bei ihren individuellen Bewegungsformen erfasst werden. Professionelle Anwender in Rehabilitationseinrichtungen können zusätzlich externe Sensorik nutzen oder Geräte kombinieren, um valide Daten für Therapie und Forschung zu erhalten.
Wohin die Entwicklung gehen könnte
Zukünftige Verbesserungen setzen an drei Stellen an: Hardware, Algorithmen und Regulierung. Hardwareseitig wären zusätzliche Sensoren sinnvoll, die Bewegungen am Rollstuhl selbst messen (Drehmomentsensoren an den Speichen, Drucksensoren am Schubgriff oder separate Push-Sensoren). Solche Messgrößen würden direkte Hinweise auf körperliche Arbeit liefern, zusätzlich zu den Handgelenksdaten.
Auf der Algorithmusseite sind inklusivere Trainingsdaten zentral. Wenn Hersteller ihre Modelle mit Daten aus unterschiedlichen Rollstuhltypen und mit verschiedenen Bewegungstechniken trainieren, sinken systematische Fehler. Einige aktuelle Validierungsstudien und Reviews aus 2023–2025 empfehlen genau diesen Ansatz. Wo möglich, sollten Algorithmen personalisiert oder kalibrierbar sein, damit Nutzerinnen und Nutzer eigene Standards setzen können.
Regulativ gibt es ebenfalls Ansatzpunkte. Die Europäische Accessibility-Regelung (EAA) und der Aufbau des European Health Data Space (EHDS) setzen Rahmenbedingungen, aber sie adressieren Wearables nicht immer direkt. EHDS- und Datenschutzregeln können helfen, Datenzugang und Interoperabilität zu verbessern; gleichzeitig ist eine explizite Einbeziehung von Wearable-Accessibility in Standards wichtig, damit Apps und Schnittstellen auch für Menschen mit Behinderung nutzbar sind.
Für den Alltag bedeutet das: Bewusstes Testen, das Aktivieren von Wheelchair-Modes (falls verfügbar) und das Teilen anonymisierter Daten mit Herstellern kann kurzfristig helfen. Langfristig braucht es offene Standards, industrielle Zusammenarbeit und Regulierungsdruck, damit Wearables inklusiver werden und die gemessenen Daten verlässlicher in Forschung und Versorgung genutzt werden können.
Fazit
Wearables bieten Potenzial, aber derzeit erfassen sie viele Alltagssituationen von Rollstuhlnutzenden nicht zuverlässig. Technische Ursachen sind bekannte Schwachstellen: Sensorlage, Trainingsdaten der Algorithmen und die Vielfalt an Rollstuhltypen. Praktisch führen die Ungenauigkeiten zu verzerrten Aktivitätswerten, unpassenden Trainingszielen und potenziellen Problemen in Telemedizin-Anwendungen. Verbesserungen sind möglich: zusätzliche Sensorik am Rollstuhl, inklusivere Trainingsdaten und klare regulatorische Vorgaben würden die Datenqualität erhöhen. Bis dahin lohnt sich kritisches Prüfen der Messwerte und ergänzende Messmethoden in der Praxis.
Wenn Sie Erfahrungen oder Fragen zu Wearables und Rollstuhl haben, freuen wir uns über Kommentare und das Teilen dieses Beitrags.



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