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Netto‑Null in der Krise: Was der Firmen‑Rückzug für Europa und Tech bedeutet



In den letzten Jahren hat sich der Begriff Netto‑Null von verbindlicher Zielvorgabe zu politisch und wirtschaftlich umkämpfter Praxis entwickelt. Der Netto-Null Rückzug 2025 beschreibt, wie einige Unternehmen ihre Investitionsprioritäten verschieben, Validierungen zurückziehen oder Ziele abschwächen. Das verändert Lieferketten, Finanzierungsbedingungen und die Nachfrage nach CO₂‑Bilanzierungssoftware. Dieser Text ordnet Gründe, konkrete Folgen für Europa und die Tech‑Branche und realistische Perspektiven ein, damit Lesende nachvollziehen können, wie sich Politik, Kapitalmarkt und Technologie gegenseitig beeinflussen.

Einleitung

Viele Geschäftsberichte und öffentliche Versprechen zum Klima klangen in den vergangenen Jahren ähnlich: bis 2050 Netto‑Null. Im Arbeitsalltag fällt davon jedoch oft wenig auf. Einkaufsteams bestellen weiter Bauteile, Rechenzentren laufen rund um die Uhr, und Banken prüfen Investments nach Risiko und Rendite. Wenn Firmen nun ihre Netto‑Null‑Pläne verschieben, betrifft das nicht nur Umweltgruppen. Lieferketten werden teurer, neue Regularien kommen früher oder in härterer Form, und Technologien für CO₂‑Messung und Berichterstattung werden plötzlich zu einem strategischen Asset. Europe, das ambitionierte politische Ziele setzt, steht dadurch vor einem doppelten Problem: höhere Anforderungen einerseits, zugleich weniger Verlässlichkeit von Partnern und Investoren andererseits.

Netto-Null Rückzug 2025: Was passiert gerade?

Seit 2024/2025 zeigen Analysen zwei parallele Entwicklungen: Die Gesamtzahl der Netto‑Null‑Ziele ist weiterhin gestiegen, gleichzeitig haben einzelne Sektoren und Firmen ihre Ambitionen reduziert oder formale Verpflichtungen zurückgezogen. Eine zentrale Messgröße dazu ist das Net Zero Stocktake von Net Zero Tracker, das 2025 deutlich mehr Verpflichtungen zählt, aber auch eine geringe Integrität vieler Ziele feststellt. Parallel dazu hat die Science Based Targets Initiative (SBTi) 2024 eine Welle von Entfernungen aus ihrem Dashboard vorgenommen, weil Unternehmen die Validierungsfristen nicht erfüllten. Diese Aktionen signalisieren: Zielzahlen allein sagen wenig über Umsetzungskraft aus.

Integrität entscheidet zunehmend über Glaubwürdigkeit: Viele Pledges existieren, wenige sind detailliert und überprüfbar.

Wichtig ist das Geschäftsmodell der betroffenen Branchen: Sektoren mit hohem Anteil an Scope‑3‑Emissionen (das sind indirekte Emissionen entlang der Lieferkette und der Nutzung verkaufter Produkte) wie Öl & Gas, aber auch große Industrie‑Lieferketten, sehen höhere Kosten und komplexere Anforderungen bei ehrlicherem Accounting. NGOs und Analysten dokumentieren, dass einzelne große Energieunternehmen ihr CAPEX wieder stärker auf fossile Projekte ausrichten. Zugleich sorgt regulatorischer Druck in Europa für neue Zielmarken; die EU verhandelte Ende 2025 über weiter verschärfte 2040‑Ziele. Die Kombination aus ambitionierter Politik und wankender Unternehmenspraxis schafft Unsicherheit für Investoren, Kunden und Technologieanbieter.

Eine kleine Tabelle fasst zentrale Größen zusammen:

Merkmal Kurze Beschreibung Beispiel
Anzahl Zielsetzungen Stark gestiegen, Integrität oft niedrig Net Zero Tracker: rund 1.935 Entitäten (2025)
Delistings Entfernungen von SBTi wegen fehlender Validierung SBTi: 239 Commitments entfernt (2024)
Sektoraler Druck Hohe Scope‑3‑Anteile erschweren Umsetzung Industrie & Energie: erhöhte CAPEX auf fossile Projekte

Wie sich das im Alltag und in Lieferketten zeigt

Für Nutzerinnen und Nutzer ist der Effekt oft indirekt, aber konkret: Ein Zulieferer, der seine Investitionen in Energieeffizienz reduziert, liefert später oder teurer; ein Spediteur, der auf fossile Brennstoffe setzt, erhöht die Kosten pro Lieferung; Banken, die Unsicherheit sehen, verlangen höhere Risikoaufschläge. Solche Änderungen summieren sich entlang von Produkt‑ und Technologieketten. Bei Elektronik etwa entstehen deutlichere CO₂‑Risiken, weil die Produktion energieintensiv ist und viele Bauteile aus globalen Lieferketten stammen.

Tech‑Firmen merken das auf mehreren Ebenen. Erstens: Rechenzentren verbrauchen Energie, und wenn Stromlieferanten weniger in erneuerbare Erzeugung investieren, steigt der CO₂‑Mix des Betriebs. Zweitens: Software‑Anbieter für CO₂‑Bilanzierung erleben eine erhöhte Nachfrage, weil Unternehmen nach Möglichkeit bessere Daten liefern müssen — etwa für Scope‑3‑Berechnungen. Scope‑3 ist oft der größte Teil der Bilanz; der Begriff beschreibt Emissionen, die außerhalb unmittelbarer eigener Anlagen entstehen, etwa durch Herstellung und Nutzung eines Produkts.

Ein einfaches Beispiel: Ein europäischer Hardware‑Hersteller bestellt Chips aus Asien. Wenn dessen Vormaterialhersteller wegen Investitionszurückhaltung mehr fossilen Strom nutzt, steigen die Scope‑3‑Emissionen des europäischen Herstellers. Gut dokumentierte Emissionsdaten sind dann nicht nur fürs Reporting nötig, sondern für Preisverhandlungen, Lieferantenwahl und Produktdesign. Die Nachfrage nach transparenten, auditierbaren Datenquellen und Softwaretools wächst — zugleich steigen die Anforderungen an deren Genauigkeit.

Welche Chancen und Risiken sich auftun

Der Rückzug von manchen Firmen bedeutet nicht ausschließlich Nachteil: Er erzeugt klare Marktsegmente. Anbieter von CO₂‑Accounting, Energiemanagement und belastbaren Offset‑Lösungen bekommen eine größere Rolle; Investoren, die auf echte Umsetzung achten, können sich differenzieren. Technologien, die Scope‑3‑Daten automatisieren — etwa durch digitale Lieferscheine, Blockchain‑gestützte Nachverfolgung oder standardisierte Emissionsfaktoren — gewinnen an Bedeutung.

Auf der Risiko‑Seite stehen Reputation, Regulatorik und Finanzierung. Unternehmen ohne überprüfbare Klimapläne laufen Gefahr, bei Ausschreibungen, von Großkunden oder bei Kreditvergabe schlechter dazustehen. Regulatorische Initiativen in Europa zielen darauf ab, Reporting‑Standards zu verschärfen und Greenwashing zu bestrafen: Wenn politische Ziele strenger werden (etwa neue EU‑Zielmarken für 2040), erhöht das die Kosten für Nachzügler.

Ein weiteres Risiko ist die Fragmentierung der Standards. Wenn sich mehrere Initiativen mit unterschiedlichen Methoden etablieren, steigt der Aufwand für Compliance. Andererseits entsteht Druck auf Standardgeber — zum Beispiel SBTi oder europäische Regelwerke — ihre Kriterien zu klären und durchsetzbar zu machen. Für Tech‑Unternehmen heißt das: Wer heute in robuste CO₂‑Transparenz investiert, kann später Wettbewerbsvorteile erzielen, weil Kundinnen und Kunden und Aufsichtsbehörden verlässliche Daten fordern werden.

Wohin das führen kann: Szenarien und Orientierung

Vier Szenarien sind plausibel, abhängig von Politik, Kapitalmarkt und Unternehmensverhalten:
Erstens, ein Policy‑gesteuertes Szenario: Europa verschärft verbindliche Regeln (z. B. strengere Reportingpflichten, klar definierte Limits für Finanzierungen fossiler Projekte). Das reduziert strategische Unsicherheit, zwingt aber Unternehmen kurzfristig zu Investitionen in Transparenz und Dekarbonisierung.
Zweitens, ein Markt‑getriebenes Szenario: Investoren differenzieren stärker, Kapital verlagert sich zu Firmen mit überprüfbaren Emissionsreduktionen — Anbieter von CO₂‑Software und Effizienztechnologien profitieren.
Drittens, ein Fragmentierungs‑Szenario: Unterschiedliche Standards und Ausstiege aus Allianzen führen zu hoher Komplexität und erhöhten Compliance‑Kosten.
Viertens, ein Rückschritt‑Szenario: Wenn große Sektoren systematisch Investitionen in fossile Expansion priorisieren, steigt das Klimarisiko und auch die Wahrscheinlichkeit strenger Regulierung später.

Für Entscheiderinnen und Entscheider in Tech bedeutet das konkret: Datenqualität priorisieren, Scope‑3‑Prozesse in die Produktentwicklung integrieren und Offsetting‑Strategien kritisch prüfen. Softwarelösungen sollten interoperabel sein, standardisierte Emissionsfaktoren nutzen und Audit‑Logs bereitstellen. In Beschaffung und Produktmanagement hilft eine klare Bewertungsmatrix für Lieferanten, die nicht nur Preis, sondern auch Emissions‑Performance berücksichtigt.

Fazit

Der Rückzug einzelner Unternehmen von Netto‑Null‑Formulierungen macht eine bereits vorhandene Spannung sichtbar: Politische Ambitionen und freiwillige Verpflichtungen treffen auf wirtschaftliche Realitäten und komplexe Lieferketten. Für Europa erhöht das kurzfristig den Druck auf Regulierung und Reporting, langfristig kann es aber auch die Nachfrage nach verlässlicher Mess‑ und Managementsoftware für CO₂ deutlich stärken. Tech‑Firmen, die ihre Datenströme sauber strukturieren und Scope‑3‑Emissionen adressieren, stehen besser da — nicht nur gegenüber Regulierern, sondern auch im Wettbewerb um Kundinnen, Investoren und Talente.


Diskutieren Sie gerne Ihre Erfahrungen mit CO₂‑Reporting und teilen Sie diesen Beitrag, wenn er nützliche Orientierung gegeben hat.


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